Literatur:
Darstellung der von
der Geschichtswerk-
statt Duderstadt ver-
legten Stolpersteine,
2012, 52 S., 3,50 €
Die Geschichte der
jüdischen Gemein-
de in Duderstadt
1812-1942 und ihre
Nachgeschichte,
2012, 184 S., 14 €
Über die Vernichtung der Duderstädter
Synagogengemeinde in der NS-Zeit
Einleitung
Franz Waldhelm wohnte als Kind mit seinen Eltern im Haus Marktstraße 39
in Duderstadt, also unmittelbar neben dem Haus der jüdischen Geschäftsleute
Rosenbaum. Von der elterlichen Wohnung her war der Terror am 10.
November 1938 aus nächster Nähe zu beobachten. Waldhelm hat Jahrzehnte
später dargestellt, wie seine Familie sich bemühte, die für sie schrecklichen
Vorgänge des Pogroms auf ihre Weise zu verstehen:
„In unseren Gesprächen in der Familie und in zuverlässigen Kreisen
Gleichgesinnter tauchte damals die Frage auf, ob die Juden durch
Hitler nicht das Schicksal erleiden, das ihnen Moses angesichts ihrer
zeitweiligen Gottesferne vorhergesagt hatte: ‚Der Herr wird Euch
unter die Völker zerstreuen; nur eine geringe Zahl von Euch wird als
Rest übrigbleiben unter den Nationen, denen Euch der Herr preisgeben
wird.’ Könnte Gottesferne in diesem Sinne nicht auch und vor allem
darin zu erblicken sein, dass die Juden Christus getötet haben?“
(Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 9, 1988, S. 442.)
Ohne dadurch das Vorgehen der Nazis zu rechtfertigen, konnte eine solche
Überlegung den gläubigen Christen bei allem Erschrecken zögern lassen, das
Verbrechen des Pogroms in seinem Denken mit Entschiedenheit zu
verurteilen. Denn wenn es sich um eine Strafe Gottes handelte, dann hätte
innerer Widerspruch dagegen ja bedeutet, sich in Gedanken gegen den Willen
des strafenden Gottes zu stellen.
Die durchaus verbreitete und beruhigend klingende These Sieberts, das
Eichsfeld sei wegen seiner christlichen Tradition „in hohem Maße immun“
gewesen gegen den Nationalsozialismus, gerät damit bereits ins Wanken. Es
stellt sich die Frage, ob das real existierende christlich-kirchliche Milieu in
Duderstadt dem Nationalsozialismus nicht auch in ganz grundlegender Weise
Wege geebnet hat. Franz Waldhelm vertrat hinsichtlich des Antisemitismus
eine ganz klare Auffassung. Er wies auf die „antijudaeischen Tendenzen“ der
katholischen Kirche hin und erklärte:
„Ich bin der Meinung, dass überall in der Welt, wo jemals
antijudaeische Tendenzen praktiziert wurden, Bedingungen dafür
gesetzt worden sind, dass Hitler den Holocaust an den Juden planen
und durchführen konnte.“
(Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 10, 1988, S. 483.)
Boykott jüdischer Geschäfte 1933
Die ersten Opfer staatlich geduldeten oder organisierten Terrors im Dritten
Reich wurden die politischen Gegner der NSDAP. Aber sogleich begann
auch die Unterdrückung und Verfolgung von Juden.
Den Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 organisierte die
NSDAP als Gegenmaßnahme gegen angebliche „Gräuel- und
Hetzpropaganda“. Gemeint war damit die durchaus zutreffende kritische
Berichterstattung der ausländischen Presse über Ausschreitungen gegen
Juden in Deutschland. Der Boykott wurde auch in Duderstadt
propagandistisch vorbereitet.
Hier erschienen damals zwei Zeitungen, die Südhannoversche Volkszeitung
im Verlag Hövener und die Eichsfelder Morgenpost im Verlag Wagner. Die
Südhannoversche Volkszeitung war der Partei des politischen Katholizismus,
dem Zentrum, eng verbunden. Sie schloss sich dem Boykottaufruf der
NSDAP ausdrücklich an. Unter der Überschrift „Der Kampf wird
durchgeführt!“ schrieb sie am 1. April 1933 auf ihrer Titelseite:
„Es bleibt dabei, dass die Abwehrreaktion schlagartig am (…)
Sonnabend um 10 Uhr vormittags einsetzt. Angesichts der sich von
Tag zu Tag steigernden Hetze des internationalen Judentums ist dieser
Entschluß der nationalsozialistischen Parteileitung zu begrüßen. Das
deutsche Volk kann sich diese unerhörte Hetze (…) niemals gefallen
lassen und jeder einzelne Deutsche muß sich dafür einsetzen, dass
dieser nationale Abwehrkampf zu einem vollen Siege über die
Machenschaften des Weltjudentums führt.“
(Südhannoversche Volkszeitung am 1.4.1933.)
Die zweite Zeitung, die Eichsfelder Morgenpost, entwickelte sich im
Frühjahr 1933 zu einem Sprachrohr der NSDAP und widmete am 1. April
dem Abdruck von Boykottaufrufen eine ganze Zeitungsseite.
Bereits in der Nacht zum 30. März wurde eine Schaufensterscheibe der
Firma Rosenbaum eingeschlagen. Wie allerdings der Boykotttag selbst in
Duderstadt verlief, ist unbekannt. Wir wissen also nicht, ob – wie anderswo –
auch in Duderstadt SA-Leute in Uniform vor den jüdischen Geschäften
aufzogen, um Kunden davon abzuhalten, diese zu betreten. Wie dem auch
sei, bereits wenige Tage später demonstrierte die Firma Rosenbaum ihren
Willen, sich in Duderstadt zu behaupten. „Damenmäntel und Kostüme.
Riesenauswahl, ganz kleine Preise, nur erste Qualitäten finden Sie bei S.
Rosenbaum“, so lautete eine Anzeige in der Südhannoverschen Volkszeitung
am 5. April 1933.
Die jüdische Gemeinde 1932 bis 1935
Während der Jahre 1932 bis 1942 lebten wohl 35 jüdische Einwohner in
Duderstadt, einige von ihnen allerdings nur zeitweise. Um das Jahr 1900
waren es 85 gewesen. Die Abwanderung von Juden in größere Städte
entsprach einem allgemeinen Trend in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts. Einige wanderten auch aus. Mit der Herrschaft der
Nationalsozialisten kam etwas Neues hinzu: Die Vertreibung von Juden aus
Duderstadt. Ob das schon für Max Löwenthal zutraf, der im März 1933 sein
Eisenwarengeschäft Marktstraße 9 verkaufte und mit seiner großen Familie
nach Hamburg zog, ist ungewiss. Eindeutig um Flucht vor der Nazigewalt
handelte es sich bei Aron und Flora Stein, die Duderstadt am 1.9.1933
verließen, um über die Schweiz zu ihren Töchtern nach Mexiko zu gelangen.
Die jüdische Gemeinde verfügte zwar zu Beginn der NS-Zeit nach außen hin
noch über ihr repräsentatives Gottes- und Schulhaus, aber sie war im Grunde
als Synagogengemeinde nicht mehr funktionsfähig. Die Schule war schon
seit 1924 geschlossen. In der Gemeinde übte kein Rabbiner, auch keiner von
außerhalb, die Seelsorge aus. Im Frühjahr 1934 unterblieb die turnusmäßig
fällige Neuwahl des Vorstands. Gustav Löwenthal führte die Geschäfte der
Gemeinde weiter. Auf eine Anfrage des Magistrats hin erklärte er, die Wahl
sei unterblieben, weil es in der Synagogengemeinde nur noch drei
wahlberechtigte Mitglieder gebe.
Diese Mitteilung des Vorstehers an den Magistrat kann uns als Indiz dafür
dienen, dass die Duderstädter Gemeinde wohl mehr konservativ orientiert
war. Nur drei Stimmberechtigte, das hieß: Frauen war kein Wahlrecht
zugebilligt.
Seit 1844 war in Duderstadt in dreijährigem Turnus die Wahl des Vorstehers
bzw. später die Wahl des Vorstandes der Synagogengemeinde vollzogen
worden. Der letzte Bericht über eine solche Wahl, die schließlich auf
Drängen der Behörden durchgeführt wurde, stammt aus dem Frühjahr 1935:
„Wohll[öblicher] Magistrat Hier.
In der am 3. d. Mts. stattgefundenen beschlussfähigen
Gemeindeversammlung wurde Unterzeichneter als Vorsteher
wiedergewählt.
Herr Erich Löwenthal als Stellvertreter, Herr Ernst Rosenbaum als
Rechnungsführer neu gewählt.
Duderstadt, 5. März 1935
Der Synagogenvorsteher
[gez.]Gustav Löwenthal“
(Stadtarchiv Duderstadt: Dud2 Nr. 2378.)
Somit bildeten die drei letzten Stimmberechtigten den dreiköpfigen Vorstand.
Brennede Synagoge – Quelle: Stadtarchiv Duderstadt
Antisemitische Ausschreitungen 1935
Der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 war von oben,
von der Parteizentrale aus, organisiert worden. Insgesamt aber war das
Bedürfnis der Nationalsozialisten nach antijüdischen Maßnahmen in den
ersten Jahren des „Dritten Reiches“ nicht hinreichend befriedigt worden. An
vielen Orten entwickelte sich Unzufriedenheit der Parteigenossen wegen des
Fortbestehens der jüdischen Geschäfte. Die Landbevölkerung z. B. hielt an
ihren alten Einkaufsgewohnheiten fest. So entwickelte sich 1935 vielerorts
von der Parteibasis her eine neue Welle antisemitischer Hetze, die über ganz
Deutschland hinweg zog und schließlich von den Parteioberen mit Blick auf
die Olympischen Spiele 1936 gebremst wurde.
Bisher unbekannt war, dass auch Duderstadt sich beteiligte.
Selbstverständlich die NSDAP-Ortsgruppe. In einer Parteiversammlung im
August 1935 sprach Kreisschulungsleiter Wieprecht über das Thema:
„Warum lehnen wir die Juden ab?“ Er stellte zeitgemäß dar, der Jude sei ein
rassisch ganz anderer Mensch. Er sei ein Kulturzerstörer und lebe nur als
Blutegel am Körper anderer Völker. (Eichsfelder Morgenpost am 22. 8.
1935.)
Während sich Wieprecht derart allgemein über den Juden ausließ, hatte sich
zuvor schon Alfons Schmalstieg, Schriftleiter der Eichsfelder Morgenpost,
der Duderstädter Juden direkt angenommen. Anlass für seinen Artikel waren
Schilder, die im Juli 1935 an allen Stadteingangsstraßen hingen. Die
Aufschrift lautete: „In dieser Stadt werden mit Juden keine Geschäfte
gemacht!“ Undenkbar, dass die Schilder ohne Wissen und Einverständnis des
Duderstädter Bürgermeisters und Kreisparteileiters Andreas Dornieden dort
angebracht wurden. Unter der Überschrift „Die Juden sind unser Unglück“
schrieb Schmalstieg in seiner Zeitung:
„Gewiß ist die Zahl der Juden in Duderstadt geringer geworden,
und wenn auch ihr Einfluß aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet
ist, wir wissen dennoch, dass sie in ihrer Art ihr Unwesen getrieben
haben und weiter treiben. Der Begriff der Rassenschande war früher
leider nicht vorhanden und man erzählt sich, dass es auch in
Duderstadt eine ganze Reihe von Judenbastarden gibt, die nur deshalb
nicht alle bekannt geworden sind, weil die Juden den Mädeln das
Maul zu stopfen verstanden oder die Mädel aus Furcht vor Schimpf
und Schande den wirklichen Vater ihrer Kinder nicht angaben.“
Das war 1935 in Duderstadt erlaubt und möglich, ohne dass die Zeitung ihre
Leserschaft verlor.
Schmalstiegs journalistische Hasstiraden enthielten aber auch
Eingeständnisse. Die Aufforderung zum Boykott der jüdischen Geschäfte
erschien ihm in Duderstadt nicht ausreichend befolgt, zumal von Gegnern
des Nationalsozialismus. Diese bezeichnete Schmalstieg als „vom jüdischen
Geiste verseuchte ehemalige Zentrumsanhänger“. Ihnen galt eine
unverhohlene Drohung:
„Wer sich dem Juden verwandt fühlt, wer sein Freund ist, der soll das
auf seine Weise ruhig bekunden, er soll sich aber auch darüber im
klaren sein, dass er dementsprechend eingeschätzt und gewertet wird.“
Als Ziel bezeichnete Schmalstieg, „dass der noch bestehende jüdische
Einfluß restlos beseitigt wird, genau so, wie wir hier die Jüdenstraße
beseitigt haben, um auch auf diese Weise zu beweisen, dass wir mit
den Juden nichts zu tun haben wollen.“
( Eichsfelder Morgenpost am 17.7.1935.)
Die Jüdenstraße war in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden. Die
Drohung, die jüdischen Geschäfte und die Käufer zu beobachten und zu
bedrängen, wurde in den folgenden Jahren in Duderstadt durchaus wahr
gemacht. Das kann in den Büchern von Ebeling/Fricke und HG Schwedhelm
ausführlich nachgelesen werden, auf die ich deshalb verweise.
Pogrom am 9./10. November 1938
Am 9. November 1938 starb um 17.30 Uhr in Paris der Erste Sekretär der
deutschen Botschaft, Ernst vom Rat. Der 17jährige Herschel Grünspan hatte
zwei Tage zuvor auf ihn geschossen, um auf das Schicksal nach Polen
abgeschobener, dort aber nicht aufgenommener, also im Niemandsland hin
und her gestoßener Juden aufmerksam zu machen.
Der 9. November 1938 verlief in Duderstadt als normaler Tag. Dazu gehörte
im NS-Staat, dass die NSDAP wie jedes Jahr ihrer Märtyrer gedachte, die
beim Putschversuch am 9. November 1923 in München ums Leben
gekommen waren. Darüber gibt es einen Bericht:
„Auch unsere Stadt hatte anlässlich dieses Tages reichen
Flaggenschmuck angelegt. Und nicht nur die öffentlichen Gebäude,
sondern auch wohl alle Privathäuser zeigten die Fahnen mit dem
leuchtenden Rot und dem Hakenkreuz, sodaß unser Stadtbild einen
festlichen Eindruck machte. (…)
Nach dem Fahneneinmarsch und einem vom hiesigen SA-Musikzug,
der unter der Leitung vom Musikführer Josef Ohnesorge stand,
intonierten Trauermarsch leitete ein Gedichtvortrag eines SA-Mannes
über zu dem feierlichen Gedenken an die 16 ersten Blutzeugen der
Bewegung, deren Namen unter dumpfen Trommelschlägen
Sturmbannführer Grote als Standortältester verlas (…) dann hielt
unser Kreisleiter Pg. Pfeiffer die Gedenkrede. (…)
Schließlich gedachte der Kreisleiter noch des in Paris ermordeten Pg.
vom Rath, der seinen Verletzungen, die er durch die Kugeln eines
feigen jüdischen Meuchelmörders erhalten hatte, erlegen ist. Das sei
ein weiteres Blutopfer für Deutschland. Heute, so schloß der
Kreisleiter, wollen wir geloben, jeder Zeit der Idee unseres Führers zu
dienen und nur ein großes Ziel zu sehen, nachzukämpfen jenen
Helden, die für Deutschland fielen, und unserem großen Führer Adolf
Hitler!“
( Südhannoversche Volkszeitung am 10.11.1938.)
In München trafen sich zur gleichen Zeit traditionell die „Alten Kämpfer“.
Als die Nachricht vom Tode vom Raths eintraf, besprachen sich Hitler und
Goebbels und Letzterer verkündete dann, wenn nunmehr spontane
antijüdische Aktionen entstünden, sei ihnen nicht entgegenzutreten. Die
Botschaft wurde verstanden. Der von München aus derart inszenierte
Pogrom brach in den Morgenstunden des 10. November 1938 über die
jüdischen Einwohner Duderstadts herein. Die Synagoge brannte. Steine
flogen gegen die beiden jüdischen Geschäftshäuser, die Schaufensterscheiben
wurden eingeschlagen, die Läden geplündert, Wertgegenstände von der SS
beschlagnahmt. Die jüdischen Männer wurden verhaftet und ins KZ
eingeliefert.
Bürgermeister Dornieden war sowohl Vorgesetzter der Polizei als auch der
Feuerwehr in Duderstadt. Hier die Erinnerung von Karl Vollmer an sein
Handeln:
„Als ehemaliges Mitglied der Duderstädter Freiw. Feuerwehr war ich
vor 40 Jahren im Dienstanzug zur Brandstelle in der Christian-Blank-
Straße geeilt, um mich bei den Löscharbeiten zu beteiligen. Leider war
von der Feuerwehr an der Brandstelle nichts zu sehen, aber dafür stand
der damalige Nazibürgermeister an der Brandstelle und schrie mich
an, „Was wollen Sie hier? Machen Sie, daß Sie fortkommen, Sie haben
hier nichts zu suchen, sonst lasse ich Sie einsperren.“ Auch der Bauer
J. Otto bat dringend um die Alarmierung der Feuerwehr und wurde
ebenfalls angeschrieen, das Maul zu halten. So blieb uns nichts
anderes übrig als tatenlos zuzusehen, wie die Synagoge abbrannte.“
(Südhannoversche Volkszeitung 8.11.1978.)
Mit diesem Pogrom eröffnete sich eine neue Dimension der staatlichen
Verfolgung der Juden. Bürgermeister Dornieden hatte mitgewirkt: Er hatte
sich an die Weisung Goebbels’, nicht einzuschreiten, gehalten und so zum
Gelingen des Pogroms in Duderstadt beigetragen.
Aus dem kurzen Bericht der Südhannoverschen Volkszeitung über diese
Ausschreitungen ist durchaus Abneigung gegen den brutalen Terror
herauszulesen.
„Diese Kundgebungen und Aktionen gegen das Judentum werden der
Welt zeigen, dass die Geduld des deutschen Volkes gegenüber den
jüdischen Mord- und Kriegshetzern zu Ende ist. Wir haben daher mit
voller Befriedigung von dem gestern Nachmittag herausgekommenen
Erlaß des Reichsministers Dr. Goebbels Kenntnis genommen, in dem
es heißt, dass die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat auf dem
Wege der Gesetzgebung bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt
werden wird.
(Südhannoversche Volkszeitung 11.11.1938.)
Zu voller Befriedigung über die angekündigten Gesetze und Verordnungen
gab es allerdings, über das Ende der brutalen Gewalt hinaus, keinen
begründeten Anlass. Diese Regelungen enthielten nämlich nichts, was
irgendwie als Recht verstanden werden könnte. Die Existenz der
Kaufmannsfamilien Rosenbaum und Löwenthal in Duderstadt wurde
vernichtet. Noch im November 1938 meldete die Presse, die beiden
Geschäftshäuser in der Marktstraße seien an den Uhrmacher Werner und den
Bäckermeister Fredershausen verkauft.
Frau Cohn, die im Synagogengebäude gewohnt hatte, wurde geraten, aus
Duderstadt zu verschwinden. (Haase1984, S. 175.) Sie war sogenannte
Arierin, die in einer „Mischehe“ lebte, befolgte diesen Rat und zog mit ihrer
Tochter nach Köln. Ihr Mann, Iwan Cohn, hatte Duderstadt bereits einige
Tage vor dem Pogrom verlassen. Er überlebte in Shanghai.
Die Familie Löwenthal suchte Zuflucht in den Niederlanden, Familie
Rosenbaum in Hamburg, doch das rette die meisten von ihnen nicht. Sie
mussten das Schicksal der europäischen Juden in den Vernichtungslagern
teilen. Ernst Rosenbaum allerdings kehrte 1945 als Ernest Ralston, also als
amerikanischer Soldat, nach Deutschland zurück.
Davon, dass nicht alle Duderstädter sich von der judenfeindlichen
Propaganda beeinflussen ließen, zeugt ein Briefwechsel zwischen Therese
Ahrend und Margarete Rosenbaum. Beide wuchsen als Freundinnen in
Duderstadt auf und blieben bis 1941, zuletzt auf mehr konspirative Weise,
miteinander in Verbindung. Von den Briefen der Margarete Rosenbaum aus
Hamburg, die uns die Tochter von Frau Arend zur Verfügung gestellt hat, sei
einer in Auszügen zitiert. Es ist ein Brief, wie ihn sich befreundete Frauen
mit Blick auf die Umstände ihres Lebens und in gegenseitiger Vertrautheit
schreiben können. Es ist ein Einblick in eine Privatsphäre, die dem Zeitgeist
widerstand. Es ist der Brief einer Jüdin, in dem sich Anstand und Zuneigung
ihrer so genannt „arischen“ Freundin widerspiegelt.
„Meine liebe, gute Therese,
Du bist gewiss in Sorge wegen des P. aber es ist wohlbehalten hier
eingetroffen, schon vor einigen Tagen. (…) Meine Freude und u[nsere]
Freude kannst Du dir gar nicht vorstellen. Solche herrliche Sachen,!
Und dann das „Spritzgebackene“! Das wusstest Du sicher noch, dass
ich das bei Euch zu Hause immer mit Vorliebe gegessen habe. Also,
Liebste, innigsten Dank, wenn es nicht übertrieben ist, dann möchte
ich sagen: tausend Dank. Das Gebäck ist schon während des
Auspackens vertilgt worden. Die Büchse wird noch nicht aufgemacht,
das hält sich ja. Und auch die Pralinen, das war ja Friedensqualität!
Meine Leidenschaft. (…) Ich freue mich, dass es Euch gut geht,
besonders Dir, ich denke so oft an Dich, Du wirst schon alles wieder
gut überstehen, u. hoffentlich hast Du keine Last davon. Dass Euer
Kleinster sich so gut entwickelt macht mir auch große Freude. (…) Ist
es bei Euch auch so kalt? Und so hoher Schnee?! Etwas Gutes hat es
ja, die Flieger können nicht kommen! Wenn doch der Krieg nur vorbei
wäre, wir wünschen es sehnlichst! (…) Ach, Therese, wenn ich doch
nur noch nicht so alt wäre!! Ich bin sehr unglücklich darüber, ansehen
tut man es ja nicht, aber die Tatsache bleibt bestehen. Und dann allein!
Wäre ich doch nicht so ein Schaf gewesen. Jetzt ist es zu spät (…)
Weißt Du, ich hätte meinen langjährigen (… [unleserliches Zeichen])
heiraten sollen, ob er wohl noch lebt, ich möchte es tatsächlich wissen,
vergessen kann ich ihn nie. – Nun bitte ich dich nochmals sei nicht
böse, dass ich nicht gleich geschrieben habe (…).“
Diesen Brief schrieb Margarete Rosenbaum am 19.1.1941. Am 25.10.1941
wurde sie zusammen mit ihrer Mutter von Hamburg aus ins Ghetto Lodz
deportiert. Beide kehrten nicht zurück.
Die Deportation
Die 1939 in Duderstadt verbliebenen Juden wohnten in der Obertorstraße 59:
der Viehhändler Joseph Israel mit seiner Frau Selma und den Söhnen Leo,
Norbert und Hans, die zur Ausbildung zeitweise auch auswärts lebten, ferner
Berta Rosenbusch, Erich Löwenthal und das Rentnerehepaar Hollaender –
viele Menschen in einem kleinen Haus. Dieses Gebäude diente also in
Duderstadt als Judenhaus. Seine Bewohner waren den zahlreichen Schikanen
und Erniedrigungen unterworfen, die der NS-Staat sich fortwährend für
Juden in Deutschland ausdachte – z. B. das ab dem 15.11.1938 für jüdische
Kinder geltende Verbot, deutsche Schulen zu besuchen, die Verpflichtung,
Radioapparate und andere elektrische Geräte abzuliefern, geringere
Lebensmittelzuteilungen und vieles andere mehr bis hin zu der Vorschrift, ab
1941 den gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ zu tragen. Als wie
verzweifelt diese Menschen ihre Lage ansahen, lässt ein Brief erahnen, den
Erich Löwenthal am 1. 5. 1939 an den Oberfinanzpräsidenten in Hannover
schrieb:
Wie ich aus Ihrem Schreiben v. 22. 4. 39 ersehe, ist bei der Sparkasse
der Stadt Duderstadt ein Sperrkonto No 10095 errichtet worden, da ich
bis heute keine Nachricht habe von welcher Seite das Geld eingezahlt
ist, nehme ich an, daß es von der Stadt Duderstadt für das
Synagogengrundstück geschehen ist. Ich möchte Sie höfl. bitten mir
das Geld freizugeben. (…) Die Familie Israel wird in Kürze durch die
jüd. Wohlfahrt zur Auswanderung gebracht, falls ich für diesen Zweck
die Gelder nicht frei bekomme, würde die Auswanderung scheitern.
Ich bürge mit meinem Kopf dafür, daß die Gelder nur für obigen
Zweck treu u. redlich verwandt werden.
Der Synagogengemeinde-Vorsteher
[gez.]Erich, Israel Loewenthal (Hauptstaatsarchiv Hannover)
Das Geld – es handelte sich um 3300 RM – war tatsächlich der Kaufpreis für
das Synagogengrundstück. Für die Auswanderung der Familie Israel wurde
davon nichts freigegeben. Das bedeutete ihr Todesurteil. Die letzte
Eintragung in die Karteikarte der Israels beim Einwohnermeldeamt
Duderstadt lautet „26. 3. 42 – Stapo Hildesheim übergeben“. Das Wort
„übergeben“ drückt die Beteiligung der Stadt Duderstadt aus. Auch Erich
Löwenthal wurde „übergeben“. Berta Rosenbusch wurde ihres hohen Alters
wegen wenige Tage später in ein Judenhaus in Hannover gebracht. Sie kam
in Theresienstadt um. Frau Hollaender war bereits im Dezember 1939
gestorben. Das Schicksal ihres Mannes ist unbekannt.
Akten zur Festnahme und Deportation der letzten jüdischen Einwohner in
Duderstadt sind nicht erhalten. Das Geschehene lässt sich jedoch
rekonstruieren, da die detaillierte Planung der Gestapo in Hannover für einen
Sammeltransport nach Trawniki bei Lublin andernorts erhalten geblieben ist.
Geheime Staatspolizei
Hannover, den 19. März 1942
Staatspolizeileitstelle Hannover
(…)
Betrifft: Abwanderung von Juden
Auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes findet die Abschiebung
der noch in Hannover einschließlich Hildesheim verbliebenen
evakuierungsfähigen Juden nunmehr am 31.3.1942 statt.
Der Transportzug D a 6 (…) wird fahrplanmäßig am 31.3.1942 um
12.12 Uhr in Gelsenkirchen eingesetzt und trifft mit 400 Juden der
Staatspolizeileitstelle Münster um 18.15 Uhr in Hannover, Bahnhof
Fischerhof, ein. Hier erfolgt die Zuladung der in Hannover
(Hildesheim) abzuschiebenden 500 Juden und die Einrangierung der
benötigten Güterwagen und des B-Wagens für das Begleitkommando
der Schutzpolizei. Um 18.36 fährt der Transportzug nach
Braunschweig und trifft dort um 20.05 Uhr ein. Die Staatspolizeistelle
Braunschweig ladet die von ihr für den Transport vorgesehenen Juden
(116) und das zugehörige Gepäck zu, so dass die endgültige
Weiterfahrt des D a 6-Transportzuges nach Trawniki bei Lublin um
20.16 Uhr erfolgen kann.“
(Marlies Buchholz 1987: Anhang)
Bei dem Zug handelte es sich laut Mitteilung Eichmanns um einen
„Russenzug“, also um einen Zug zum Transport russischer Zwangsarbeiter
ins Deutsche Reich, der 700 Personen fassen konnte. (Marlies Buchholz,
1987: S. 222.) Bei seiner Rückfahrt sollte er nun 1000 Juden aus dem
Deutschen Reich nach Osten befördern. Den Betroffenen wurde ihre
Abschiebung vorher mitgeteilt und es wurde ihnen auch angegeben, was sie
mitzubringen hatten.
1 Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsstücken
(kein sperrendes Gut) bis 50 kg.,
Vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk),
Bettzeug mit Decke (keine Matratzen)
Transportverpflegung für etwa 3 Tage,
Essgeschirr (Teller oder Topf mit Löffel).
(…)
Jeder abzuschiebende Jude hat sein Bargeld, seine Wertpapiere,
Sparkassenbücher,
sonstige Wertgegenstände, wie Schmuck, Ringe Halsketten,
Armbänder usw. bei seiner
Festnahme bei sich zu führen. (Marlies Buchholz 1987: Anhang)
Es sollte jedoch keineswegs erlaubt sein, dies alles mitzunehmen. Die
Planung der Gestapo sah vielmehr vor, Wertgegenstände bei der
Durchsuchung der Koffer und bei der Leibesvisitation zugunsten der
Oberfinanzdirektion zu konfiszieren.
Für die Juden aus dem Regierungsbezirk Hildesheim wurde festgelegt, dass
sie am 27. 3.1942 von Hildesheim aus mit der Straßenbahn zur
Staatspolizeileitstelle in Hannover-Ahlem transportiert werden sollten, also
ganz öffentlich.
Der Zug DA 6 traf am 31.3.1942 mit erheblicher Verspätung auf dem
Bahnhof Fischerhof ein. Ein Zeuge, dem befohlen worden war, Gepäck von
Juden dorthin zu fahren, berichtete:
Der Zug hatte etwa sechs Stunden Verspätung und die von Hannover
zum Abtransport Bestimmten hatten während der ganzen Zeit bei
strömendem Regen unter freiem Himmel gestanden. Sofort nach dem
Halten des Zuges wurde alles wahllos in die Wagen hineingedrängt, ob
Platz vorhanden war oder nicht, wurde vorher nicht überprüft.
(Marlies Buchholz, 1987: S. 228.)
Es gab allerdings gewisse Irritationen darüber, wohin dieser
Deportationszug tatsächlich fuhr, ob wirklich nach Trawniki oder ins
Warschauer Ghetto. Adam Czerniakow, der Vorsitzende des Judenrats
im Warschauer Ghetto, führte nämlich Tagebuch und trug unter dem
Datum des 1. April 1942 ein: „In den Morgenstunden wurden etwa
1000 Ausgewiesene aus Hannover, Gelsenkirchen usw. hergeschickt.“
(Hilberg u. a. 1999: S. 139f.) Wenn jedoch die Zeitangabe
Czerniakows stimmte, konnte es sich bei dem von ihm noch näher
beschriebenen Transport nicht um denjenigen mit dem Zug DA 6
gehandelt haben, der bereits mit erheblicher Verspätung etwa um
Mitternacht in Hannover abfuhr, dem Fahrplan nach anderthalb
Stunden bis Braunschweig benötigte und bei solcher
Reisegeschwindigkeit keinesfalls in den Morgenstunden des 1. April
1942 Warschau erreichen konnte. Inzwischen ist durch Postkarten,
welche Deportierte dieses Transports aus dem Warschauer Ghetto
schrieben, dass der Transport am 4.4.1942 dort eintraf.
Über die Familie Israel gibt es von da an keine Nachricht mehr. Erich
Löwenthal starb laut Gedenkbuch des Landkreises Göttingen am 16.9.1942
in Maidanek. Weniger harmlos ausgedrückt heißt das: Er wurde dort
ermordet.
Von dem persönlichen Schicksal der am 26. März deportierten Einwohner
erfuhren die Duderstädter 1942 natürlich nichts. Dass den Juden Schlimmes
zugedacht war, stand für den, der es lesen wollte, am 25. Februar 1942 in der
Duderstädter Lokalzeitung. Dort war eine Erklärung Hitlers abgedruckt,
übrigens nicht die erste dieser Art:
„… und meine Prophezeiung wird ihre Erfüllung finden, dass durch
diesen Krieg nicht die arische Menschheit vernichtet, sondern d e r J u
d e a u s g e r o t t e t
w e r d e n w i r d. Was immer auch der Kampf mit sich bringen, oder
wie lange er dauern mag, dies wird sein endgültiges Ergebnis sein.
Und dann erst, nach der Beseitigung dieser Parasiten, wird über die
leidende Welt eine lange Zeit der Völkerverständigung und des
Friedens kommen.“
(Südhannoversche Zeitung am 25.2.1942.)
Schluss
Seit Frühjahr 1942 lebten in Duderstadt keine Juden mehr. Damit war
erreicht, was „christliche“ Kaufleute – so bezeichneten sie sich selbst – vor
langer Zeit, nämlich 1816, angestrebt hatten. Sie hatten gefordert, die Juden
aus Duderstadt zu „entfernen“ und jenen Zustand wieder herzustellen, in dem
die Stadt „von Juden rein erhalten“ gewesen sei. (Stadtarchiv Duderstadt:
Dud2 Nr. 22586.) Das war rücksichtslos und unbarmherzig gedacht. Aus
Duderstadt ausgewiesen zu werden, hätte für die jüdischen Familien
bedeutet, ihrer ohnehin kargen wirtschaftlichen Lebensgrundlage beraubt und
einem sehr ungewissen Schicksal ausgeliefert zu sein. Was den
kaufmännisch-christlichen Antisemiten zu Beginn des 19 Jahrhunderts in
Duderstadt aber nicht in den Sinn gekommen ist: dass man die Juden nicht
nur aus Duderstadt, sondern durch systematische Vernichtung überhaupt aus
der Welt schaffen sollte.
Von den Juden, die während der NS-Jahre in Duderstadt wohnten, haben 22
die Shoa nicht überlebt.
Die Synagogengemeinde allerdings bestand auch nach 1945 noch auf dem
Papier fort. 1941/42 hatte sie die Rechtsform eines eingetragenen Vereins
annehmen müssen. 1955 wurde sie von Amts wegen im Vereinsregister des
Amtsgerichts Duderstadt gelöscht – gerade zu der Zeit, als Iwan Cohn
zurückgekehrt war und vergeblich versuchte, in Duderstadt wieder Fuß zu
fassen. (Götz Hütt)
Literatur:
·
Buchholz, Marlies: Die Hannoverschen Judenhäuser. Zur Situation der
Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfolgung 1941 – 1945.
·
Hilberg, Raul/Staron, Stanilaw/Kermisz, Josef (Hrsg.): The Warsaw
Diary of Adam Czerniakow, Chicago 1999, S. 139 f.